Publikum ins Herz getroffen
„Sie werden einen besonderen Abend erleben, das verspreche ich ihnen“, so begrüßte der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Markus Löble, die Gäste im Herrensaal des Christophsbads. Den Abend, reich an Emotionen, bestritten fortan das Chorensemble „coro per resistencia“ aus Nürtingen und das Tübinger Klezmer-Quartett „Jontef“.
Ein leidenschaftlicher Chor unter Leitung von Fabian Wöhrle präsentierte sich mit einem breiten, musikalisch anspruchsvollen Programm. Am Bechstein-Flügel begleitete Claudia Großekathöfer virtuos und gefühlvoll das Chorprogramm. Der Titel „Dos Kelbl, donay, donay“, enthielt schöne Solo-Partien auf dem Flügel.
Auch das Tübinger Klezmer-Quartett „Jontef“ brachte jiddische Lieder und Klezmer mit und traf beim Publikum vom ersten Takt an mitten ins Herz. Wie ein Fest gestaltete das Quartett den Abend fortan mit Liedern, aus der reichen Geschichte des Judentums, die sich um Freude und Leid rankt. Michael Chaim-Langer fesselte das Publikum mit seinem lebhaften Gesang. Der studierte Schauspieler und Sänger lebt die Inhalte und zieht die Zuhörer ins Geschehen mit hinein. Im Titel „Bels“ nimmt er die Zuhörer mit ins Städtchen Bels, das für jede Heimat stehen könnte, die vermisst wird. Die Gänsehautmomente werden unterstrichen von Joachim Günther (Klarinette/Akkordeon), Wolfram Ströle (Violine, Gitarre) und Peter Falk (Kontrabass).
Einige Instrumentalstücke zeigten das musikalische Können der Musiker und die Liebe zu ihrem ganz persönlichen Instrument. Mit „Ich hab dich lieb“ gab es gegen Ende des Abends ein Liebeslied, das sich mit seiner Aussage auch dem Publikum zuwandte. Mit Chorarrangements von „Bei mir bist du sheijn“ oder „Dona, dona“, mit unbekannten hebräischen und sephardischen Liedern, etwa von Paul Ben-Haim, sowie mit fabelhaft interpretiertem jiddischem Klezmer spürten der „coro per resistencia“ und „Jontef“ der jiddischen Kultur und ihren Überlebenswegen nach. Beide Ensembles erhielten großen und verdienten Applaus. Mit einer Zungenbrecher-Zugabe lieferten die Ensembles ein furioses Finale.
NWZ, 22. Mai 2017
Labsal fürs Gemüt und Balsam für die Seele
coro per resistencia und Jontef präsentieren jiddische Lieder und Klezmer
NÜRTINGEN. Dass Lieder, wie sie zu Festen, Feiern oder auch im Alltag erklingen, das Lebensgefühl eines ganzen Volkes auf sehr berührende Weise deutlich machen, war am Samstagabend im voll besetzten Großen Saal der Rudolf-Steiner-Schule zu erleben: „Jiddische Lieder & Klezmer“, ein nuancenreiches Konzert des coro per resistencia, mit Claudia Großekathöfer am Klavier und unter der einfühlsamen Leitung von Fabian Wöhrle, in einer gelungenen Kooperation mit dem Klezmer-Quartett Jontef aus Tübingen. Im tragenden Thema des Abends, „Wos jiddisch is gewen“, wurde den vielfältigen Facetten von Freude und Leid, Wehmut und Hoffnung in einundzwanzig Liedern nachgespürt. Lieder des jüdischen Volkes, dessen Existenz durch Jahrhunderte hinweg durch Verfolgung, Flucht und Umsiedlung bedroht waren, dessen jiddische Kultur und Sprache Ghetto und Holocaust überlebten und dessen Musik heute zur Weltmusik gehört.
Die Programmfolge und das Wechselspiel von Klezmer und coro per resistencia überzeugte. Jontef, mit dem in Israel geborenen Schauspieler und Sänger Michael Chaim Langer, Joachim Günther (Klarinette, Akkordeon), Wolfram Ströle (Violine, Gitarre) und Peter Falk (Kontrabass), ließ in seinen lebendigen, äußerst musikantisch und ausdrucksstark gesungenen und gespielten jiddischen Liedern die Musik der osteuropäischen Juden aufleben, die Wandermusiker auswendig vor begeistertem Publikum spielten und die später in Amerika weiterlebte. Die humorvoll-doppelbödigen Einlagen Langers waren ein geschicktes Inszenierungsmittel, um an zentralen Stellen auf das nächste Lied vorzubereiten.
Authentizität und große emotionale Ausstrahlung
Dazwischen erklangen jeweils Chorsätze in einer gelungenen Auswahl, Lieder sephardischer (spanischer) Juden, Lieder des 20. Jahrhunderts aus Israel und jiddische Lieder, die ihr internationales Weiterleben in Musicals und Film belegten. Wöhrle hatte meist schlichte, sehr prägnante, dem inhaltlichen Duktus der Lieder nachspürende Arrangements ausgewählt. Das ergab einen homogenen und transparenten farbenreichen Chorklang, gab den Liedern Authentizität und große emotionale Ausstrahlung, sie berührten und begeisterten die Zuhörer unmittelbar. Von Jontefs mitreißendem „Was jiddisch is gewen“ an, in dessen letzter Strophe die Hoffnung der Judenheit auf einen Messias aufscheint, entwickelte sich die Liedfolge zu einem stimmigen Ganzen.
So führte der coro per resistencia die Zuhörer von heiterer, ausgelassener Stimmung am Dorfrand im bäuerlichen Eretz-Israel, gesungen in hebräischer Sprache, zu wehmütigem Ernst, der mit dem Lernen des hebräischen Alphabets und der Tora zu tun hat, hält inne beim getragenen „Tum Balalayka“, in dem ein Junge über ein Rätsel das richtige Mädchen finden will. Sehnsucht nach der verlorenen jüdischen Heimat ist dann Thema bei Jontef, die Sehnsucht der Sepharden (instrumental), die der Ostjuden im dramatisch-kontrastreich interpretierten „Bels“. Wie es im Schtedl zuging, das breitet Langer mit seiner Gruppe dann voller Humor und Spielfreude aus; Joachim Günter auf seiner Klarinette hat dabei einen tragenden Part. Den Faden spinnt dann der coro per resistencia weiter, singt klangschön, in hebräischer Sprache von der schönen alten wieder hervorgeholten Melodie, dann in ladinisch, der Sprache der Sepharden, vom komplizierten Verliebtsein, einem anspruchsvollen A-cappella-Chorsatz von Paul Ben-Haim, einem der Gründerväter moderner israelischer Musik.
Mit dem bekannten „Bay Mir Bistu Sheyn“ in der Musical-Fassung von 1932 (Sholom Segunda) wird Amerika zum Schauplatz des Geschehens. Jontef wiederum besingt Amerika als Land, in dem die jüdischen Sitten verfallen: „What can you mach, ’s is’ Amerika“. Als das Land der Immigranten mit ihren betrogenen Hoffnungen beschreibt es „Die grine kusine“ mit ihrer Mischung aus amerikanischem Text und jiddischen Sprachfetzen. Beim „verrückten Hochzeitstanz“ lässt Wolfram Ströle in packendem Spiel seine Geige singen.
Dann wechselt die Stimmung. Der coro per resistencia singt von Trennung und Liebessehnsucht und vom Schicksal der in Auschwitz ermordeten Juden, um die es in „Donay, donay“, im Lied vom Kälbchen, geht. Dann ein traditionelles sephardisches Lied: „La komida la manyana“ arrangiert von Alon Wallach, (geb. 1980 in Jerusalem). Über dem rhythmischen, lebhaften, gleichbleibenden Fundament (Ostinato) der Männerstimmen entwickelt sich flächig in den Frauenstimmen die Erzählung von einer sehr verliebten Tochter; ihre Mutter warnt sie vor der Enttäuschung ihrer Liebe. Mit großer vokaler Präzision und feinfühliger Dynamik interpretierte der Chor das vom spannungsvollen 7/8-Takt geprägte Lied.
Die Bedeutung eines Lebens in der Gegenwart wird in „Sol sajn“ von Jontef thematisiert. „Kann sein, mein Schiff kommt ans Ufer nie. Was liegt mir daran, dort je anzukommen. Mir genügt der Gang auf dem sonnigen Weg.“ Mit „Dojne“ treibt das Geschehen ekstatisch auf das große, gemeinsame Finale von coro per resistencia und Jontef zu, in dem die Liebesmacht der Klezmermusik besungen wird: „Oy Mame“ (Abraham Ellstein, 1941) aus dem Film „Yidl Mitn Fidl“.
Frenetischer Beifall, Dreingaben und ein enthusiasmiertes Publikum waren dann das eine, das andere die Erkenntnis: Diese Musik hat mit mir zu tun, weil sie Aufforderung zu politischer Wachsamkeit ist, warnendes Beispiel auch.
Helmuth Kern, Nürtinger Zeitung vom 23.5.2017