Balsam für die griechische Seele
Nürtinger Zeitung v. 30. September 2015
Der Nürtinger „coro per resistencia“ führte Theodorakis’ Volksoratorium „Axion Esti“ auf
NÜRTINGEN. „Axion esti“, entstanden 1960, ist ein Volksoratorium, ein Oratorium für und über das griechische Volk, in dem die Geschichte Griechenlands, das nach der Befreiung Kretas im Jahr 1912 zu sich selber findet, eindrückliche Musik wird. In seiner kontrastreichen Komposition verschmilzt Mikis Theodorakis unterschiedliche Stilmittel aus Gegenwart und griechischer Tradition: avantgardistische Musik der Nachkriegsjahre, griechisch-orthodoxe Liturgie, klassisches Sinfonieorchester sowie Volksmusik werden zu einer neuen revolutionären griechischen Musiksprache.
Dieses Werk wurde letzten Sonntag in der voll besetzten Rudolf-Steiner-Schule in Nürtingen unter der Leitung von Fabian Wöhrle aufgeführt. Wöhrle hat im April dieses Jahres die Leitung des Nürtinger Kammerchores „coro per resistencia“ übernommen; der hatte sich in seinen Anfangsjahren bereits mit der Chorliteratur von Mikis Theodorakis auseinandergesetzt. Unter Wöhrles sensiblem, tänzerisch leichtem Dirigat entfalteten der Chor und der Klangkörper des Sinfonieorchesters das in der Originalsprache gesungene Werk in ausdrucksstarken Stimmungsbildern, zusammen mit Schlagzeug, Gitarre, Santouri (Hackbrett) und Bouzouki – mit der griechischen Langhalslaute werden Volkslieder und Tänze begleitet.
Religiöse Assoziationen sowie der Titel „Axion esti“, „Gepriesen sei“, legen die Formbezeichnung Oratorium nahe. Vorlage für Theodorakis war das bilderreiche Langgedicht von Odysseas Elytis (1911 bis 1996). Es ist geprägt durch ein Ineinandergehen von antiken, kosmischen, biblischen und mythischen Bildern; dessen Dreigliederung behält der Komponist bei: Genesis (Schöpfung), Passion (Leiden und Tod) und Großer Lobgesang (Ewigkeit).
Mit „Axion esti“ hatte Elytis einen neuen griechischen Mythos geschaffen, in dem Gerechtigkeit, Frieden und Liebe – das absolute Licht – tragende Elemente für eine Welt nach dem großen Krieg sind, in der es sich zu leben lohnt, in dem die Tage nicht durch die Schrecken barbarischen, menschenvernichtenden Handelns geprägt sind und in dem die griechische Nation in Freiheit atmen kann.
Zehn Jahre arbeitete der vom Surrealismus geprägte Lyriker und spätere Nobelpreisträger an diesem 1958 erschienenen Werk; 1960 bekam er dafür den Staatspreis für Lyrik. Im gleichen Jahr erhält Theodorakis dieses Gedicht. Er ist damals im Exil in Paris. Der Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus und in der Zeit danach, für seine politische Haltung inhaftiert und gefoltert, vertont Teile daraus. Das Werk wird bereits 1964 in Griechenland aufgeführt, danach ist es Kultmusik. 1982 wurde das in seiner musikalischen Struktur bewusst einfach angelegte Werk in einer deutschen Übertragung in der damaligen DDR, in Dresden und Leipzig, aufgeführt. Ein Jahr später führte es der „coro per resistencia“ in der Nürtinger Kreuzkirche auf.
Für die jetzige Aufführung gab es zahlreiche Anlässe: 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 32 Jahre nach der ersten Aufführung in Nürtingen, und zugleich sollte sie eine Hommage an den am 29. Juli dieses Jahres 90 Jahre alt gewordenen Komponisten, Schriftsteller, Politiker und griechischen Volkshelden sein.
Es ergab sich eine emotional dichte Atmosphäre
Es war eine Aufführung, die die Besucherinnen und Besucher auf vielfältige Weise anrührte und berührte. Das zeigte sich im Beifall nach einzelnen Teilen, vor allem denen mit volksliedhaftem Charakter – wie „Ena to helidoni“ („Nur eine einzige Schwalbe“) oder „Tis agapis emata“ („Blutstrom der Liebe“) – und im frenetischen Schlussapplaus, der sich dann bei den beiden Dreingaben zum begeisterten Mitklatschen steigerte.
Diese Aufführung machte deutlich, dass Musik mehr ist als ästhetischer Genuss, dass in ihr die Energie des Widerständigen steckt und das Komponieren auch zu einer Überlebenshilfe werden kann, weil in ihr eine veränderbare und bessere Zukunft hörbare, fühlbare und erlebbare Wirklichkeit werden kann – und diese ist ansteckend.
Die an den Chor hohen Anspruch stellenden rhythmisch gesprochenen Textteile wurden überzeugend und wo nötig mit dramatischer Wucht gestaltet, die sanglich einfacheren Partien des Chores ergaben mit dem klassischen Orchesterklang und den aus der traditionellen griechischen Musik kommenden Instrumenten eine emotional dichte Atmosphäre.
Der Dirigent hatte einen Solisten mit großer Sensibilität und Ausdruckskraft gewinnen können: Den 28-jährigen Bassisten Dionysios Tsaousidis, der die Baritonlage des Solisten und den Part des Volkssängers stimmlich hervorragend gestaltete; erst kürzlich hat er in Moers den Schubert-Preis der Deutschen Schubert-Gesellschaft erhalten.
Die drei Rezitative der Passion „Der Marsch zur Front“, „Der große Auszug“ und „Prophetie“ deklamierte wohltuend zurückgenommen und sehr konzentriert Patrick Suhm. Wer der neugriechischen Sprache nicht mächtig war, der hörte Tonbilder, die zu Stimmungs- und Seelenbildern wurden, der erlebte die identitätsstiftende und verbindende Wirkung von Musik, der tauchte ein in eine dichte Atmosphäre aus Anklängen an Tonmalerei, Programmmusik, hymnischem Gesang und traditioneller Volksmusik und war fasziniert von den realen Klangraumschichten, in denen auf der Bühne der Waldorfschule dieses Werk sich zum apotheosegleichen Schluss steigerte.
Am Anfang befreit sich die Komposition aus dem „Chaos“ avantgardistischer Atonalität; im dritten Teil über dem Fundament des „Tsamikos“, eines neugriechischen Tanzes im Dreivierteltakt, bringt sie den neuen Musikstil zum Strahlen – auch das Befreiung und Balsam für die griechische Seele. So endet das Werk mit „Jetzt der Götter Erniedrigung, des Menschen versinkende Asche / Jetzt ist das Nichts / und Ewig die Welt die kleine die GROSSE!“.
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Am 27. September wird der coro in der Nürtinger Waldorfschule das Volksoratorium „Axion esti“ von Mikis Theodorakis, der in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag feiern kann, aufführen. Karten für dieses Konzert können ab sofort per Mail unter karten@coro-nuertingen.de reserviert werden.
Mikis Theodorakis hat das Werk nach Texten des Literatur-Nobelpreisträgers Odysseas Elytis komponiert. Der Text erzählt die Geschichte Griechenlands. Mikis Theodorakis bezeichnete das Werk als „eine Bibel des griechischen Volkes“. Theodorakis erhielt den Text im Frühjahr 1960 im Exil in Paris. In wenigen Tagen entstand das Material für das Oratorium. Die Musik ist geprägt von Elementen der griechischen Volksmusik. Theodorakis gelingt es, seine Erlebnisse und Gefühle in seinem Kampf gegen Ungerechtigkeit und den Widerstand gegen die Diktatur in seiner Musik auszudrücken. Revolutionär neu für die griechische Musik ist die Verbindung der griechischen Volksintrumente mit den Instrumenten des klassischen sinfonischen Orchesters.
Kein Zuhörer kann sich der Faszination und Intensität dieser ungeheuer kraftvollen und zugleich melancholischen Musik entziehen.
Ausführende:
Dionysios Tsaousidis (Bariton, Volkssänger)
Patrick Suhm (Sprecher)
Orchester und Volksmusikensemble
coro per resistencia
Leitung: Fabian Wöhrle
Eintritt: 18/12 Euro
Karten für dieses Konzert sind im Stadtbüro der Nürtinger Zeitung, Am Obertor 15, Telefon 07022/ 94 64 – 150 (Öffnungszeiten Mo.-Fr. 8.00 – 18.00 Uhr, Sa. 8.00 – 12.00 Uhr) erhältlich und können unter karten@coro-nuertingen.de reserviert werden.