Wie ein Requiem entsteht
Komponist Dietrich Lohff sprach in der Kulturkantine über sein „Requiem für einen polnischen Jungen“
NÜRTINGEN. Wer es einmal gehört hat, vergisst es nicht: Dietrich Lohffs „Requiem für einen polnischen Jungen“. Geschrieben in den Jahren 1996/97, wurde es am 9. November 1998 in sechs Kirchen uraufgeführt. Seit damals hat das zutiefst anrührende Werk über 80 Aufführungen erlebt. Am morgigen Sonntag, dem Gedenktag zur Reichspogromnacht am 9. November 1938, wird das Stück wieder in neun deutschen Kirchen erklingen. So auch in der Nürtinger Stadtkirche. Um 18 Uhr beginnt das Konzert des „coro per resistencia“, in dem neben dem Lohff-Requiem auch Chorwerke jüdischer Komponisten erklingen.
Nicht alle Tage hat man Gelegenheit, einem Komponisten eines groß angelegten kirchenmusikalischen Werkes persönlich zu begegnen, was in erster Linie daran liegt, dass die meisten schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen. Dietrich Lohff, Jahrgang 1941, dagegen erfreut sich bester Gesundheit. Und als er von seinem Verlag erfuhr, dass der „coro per resistencia“ sein „Requiem“ aufführen würde, hat er sich spontan angeboten, einen einführenden Vortragsabend über das Werk zu gestalten. Der war am Donnerstag in der Kulturkantine in der Alten Seegrasspinnerei und ermöglichte den gut 20 Zuhörern einen spannenden Einblick in die Entstehungsgeschichte und einige kompositorische Finessen des „Requiems“.
Ein Zufall war es, sagte Lohff, der ihm in einer Bibliothek ein Exemplar der (nur noch antiquarisch erhältlichen) Lyriksammlung „An den Wind geschrieben“ in die Hände fallen ließ – eine Sammlung mit Texten von Opfern des Faschismus. „Die Texte haben mich angesprungen“, sagt er, „und sich gedanklich eingeordnet in den Verlauf eines Requiems.“
Zwar hat der Pfarrersohn nach dem Studium zweier Semester Kirchenmusik auf Schulmusik umgesattelt, sich intensiv mit Zwölfton- und elektronischer Musik auseinandergesetzt und sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre mit sakraler Rockmusik beschäftigt. Seinem „Requiem“ aber hört man das nicht an. Freimütig bekennt Lohff, der Ennio Morricone („Spiel mir das Lied vom Tod“), Prokofjew, Schostakowitsch, Eisler bewundert, sich sozusagen einen Kompositionsstil erschnorrt zu haben. Auch rhythmische Pattern, wie sie in der Popmusik verwendet werden, hätten Eingang gefunden in das „Requiem“. Gleichwohl habe er dabei nicht auf das klassische Instrumentarium verzichtet. Und um dem Werk eine dunkle Tönung zu verleihen, habe er bei der Instrumentierung auf hell klingende Instrumente wie Geigen und Flöten verzichtet. Klarinette (Lohff: „Die Klarinette ist das Instrument des Klagens“) und Horn treten des Öfteren solistisch in Erscheinung.
„Tonale Musik ist relativ einfach“, sagt Lohff, „aber sie darf die Menschen nicht betrügen; sie muss ehrlich sein und dem Zuhörer denkerisch etwas abverlangen.“
Dietrich Lohffs „Requiem für einen polnischen Jungen“, geschrieben für Mezzosopran, Knabenstimme, gemischten Chor und kleines Orchester, ist alles andere als leicht konsumierbare Kost und verlangt besonders den Orchestermusikern und dem Dirigenten einiges ab. Und es verfehlt seine Wirkung auf das Publikum nicht. „Das Requiem ist ein Stück, bei dem man, wenn man es gehört hat, ein ganzes Weilchen nicht mehr sprechen möchte“, zitiert Lohff einen Zuhörer. „Es ist ein Stück für uns, ein Stück vom Tätervolk“, resümiert er am Ende des Abends. „Ein Stück für unsere eigene Trauerarbeit. Wir müssen unsere Trauer zulassen.“
Volker Haußmann, Nürtinger Zeitung vom 8. November 2008
Karten für das Konzert des „coro per resistencia“ am morgigen Sonntag, 18 Uhr, in der Stadtkirche Nürtingen gibt es an der Abendkasse.